Erzählungen

Es war warm und ab und zu gab es ein Gewitter. Hagelkörner kamen auch noch herunter. Allerdings war das Wetter nimmer so wichtig für mich gewesen, wohl die bildende Kunst. Bis jetzt begleiteten diese Kunst und auch die Musik mich. 

Anfang Juni 1979 besuchte ich Süd-Limburg – ich war vor nicht allzu langer Zeit von Groningen nach Utrecht umgezogen. Ich machte dort Urlaub und wollte das Festival „Pinkpop“ miterleben. Da im Süden der Niederlande traf ich eine junge, liebenswürdige und warmherzige Frau. Sie erzählte mir, dass sie eine gebürtige Kölnerin war und dass sie da noch ständig wohnte. Es klappte sofort wundervoll zwischen uns beiden. Wir verabredeten uns, zusammen „Pinkpop“ in Geleen zu besuchen, Wir beide hatten bereits im Vorverkauf unsere Eintrittskarten bekommen. Zusammen zu gehen, würde doch viel angenehmer sein!
Sie wollte am liebsten Peter Tosh hören. Ich hatte mehr Interesse an Mark Knopfler und seiner Band Dire Straits. Es lief jedoch völlig anders. Beide machten ausgezeichnete Musik, aber die Musik von The Police brachte uns den Himmel voller Gitarren. Ja, wir waren begeistert von:
„I Can´t Stand Losing You”, „So Lonely“, „Hole in My Life”, „Message in a Bottle”, aber am besten fanden wir „Roxanne”. Wir wurden von diesem Lied überwältigt.
Ja, warum The Police! Wir fühlten uns, als ob wir zu Hause angekommen waren. Durch diese Musik waren wir von Unbekannten plötzlich zu Bekannten geworden und es wurde noch viel schlimmer!
Ich verlor diese deutsche Frau nicht mehr aus den Augen. Wir tanzten voller Energie zusammen, fühlten uns eng und leidenschaftlich miteinander verbunden. Da machten, vom Blitz getroffen, die Musik und die Verliebtheit mich total verrückt. Ohne diese Erfahrung wäre ich garantiert ein anderer Mensch geblieben.
Ich dachte:
„Wie soll das weitergehen?”
Spät abends, als wir zurück zu meinem Hotel gingen, sangen wir ununterbrochen:
“Roxanne, you don´t have to put on the red light
Roxanne, you don´t have to put on the red light
Roxanne, you don´t have to put on the red light …”
Ich erklärte ihr spontan und von ganzem Herzen, dass ich sie liebte, als ich sie zum ersten Mal sah.
„Ich möchte dich nicht mit einem anderen Mann teilen”, fügte ich noch schnell hinzu.
Sie verschlang mich sehnsüchtig, als ob sie mit mir tausend Ozeane überqueren wollte. Als wir danach noch nicht so lange in meinem Hotelzimmer waren, fing sie an, mich ununterbrochen zu knutschen und flüsterte mir ins Ohr:
„Falls ich einst ein Kind bekommen möchte, dann würde ich dich als den geeigneten Erzeuger auswählen.”
Dann sagte sie eine Weile nichts mehr. Nach einiger Zeit flüsterte sie mir ins Ohr:
„Würde es ein Mädchen sein, dann würde ich es Roxanne nennen.”
Ich hatte nichts dagegen und flüsterte ihr ins Ohr:
„Das ist ja deine Sache, denn ich würde lediglich der Erzeuger sein!”
Gegen ihre Verführungskraft war ich machtlos. Mit einer Geschwindigkeit eines Eilzuges zog sie mir die Klamotten vom Körper und wenig später war sie auch nackt. Da lagen wir dann, so nah aneinander. Näher war unmöglich. Sie verzauberte mich total. Alles was sie machte war reine Magie. Bei jeder Bewegung, bei jedem Atemzug ihrerseits spürte ich mein Herz intensiver schlagen. Ich sehnte mich unablässig stark nach ihrer kräftigen Umarmung. Es fühlte sich an, als ob wir Geister in einer spirituellen Welt geworden wären. Soweit ich noch im Stande war zu denken, dachte ich:
„Ohne sie kann ich nicht weiterleben.”
Am nächsten Morgen, als ich aufwachte, war sie verschwunden. Das Bett war ohne sie viel zu groß geworden. Das Fenster stand auf und ein sanfter Wind wehte durch das Zimmer. Am liebsten hätte ich weitergeschlafen, aber das gelang mir nicht mehr. Ich wollte wissen, wo sie hingegangen war.
Ich stand auf und sah auf dem Tisch einen Zettel liegen. Darauf hatte sie geschrieben:
„Ich danke dir. Mit niemandem habe ich bis jetzt solches erlebt. Ich werde dich vermissen und nicht vergessen. Dennoch ist es besser so. Nochmals vielen Dank.”
Ihr Name stand nicht auf dem Zettel und ihre Adresse darauf zu schreiben, daran hatte sie offensichtlich nicht gedacht. Sie hatte mir erzählt, als wir einander kennen gelernt hatten, dass sie Maria hieß. Aber sie könnte ebenso gut einen anderen Namen haben! Da stand ich dann mit einem versteinerten Herzen und ich fühlte mich so einsam, so einsam, so einsam.
Das, was passiert war, davon verstand ich überhaupt nichts. Als ob ein Loch in meine Seele geschleudert worden wäre und ich wüsste nicht, wie ich es heilen könnte. Meine Welt lag in Trümmern. Am liebsten wäre mir gewesen, es wäre erneut dunkel geworden. Das Tageslicht konnte ich nicht mehr ertragen.
“Lass es doch Nacht werden”, sprach ich mir selbst zu. 

Sie war gegangen und ich musste weiter machen. Die Tage, die ich noch in Süd-Limburg verbrachte, dauerten für mein Gefühl tausend Jahre. Wie konnte ich ohne sie noch weiterleben. Eine Antwort darauf bekam ich nicht. Ich fühlte mich so im Stich gelassen, so im Stich gelassen, so im Stich gelassen und in meinem Kopf spielte The Police ohne Pause:
„So lonely, so lonely, so lonely …”
Dann, am vorletzten Tag meines Urlaubes sprach eine Stimme in meiner Seele und sagte:
„Besuch die Verstorbenen.”
Im Hotel erkundigte ich mich, wo hier in der Nähe ein Friedhof war. Man erzählte mir, der amerikanische Kriegsfriedhof „Margraten” läge nicht weit entfernt von hier.
Fast den ganzen Tag lief ich dort, wie in einer menschenleeren Wüste, herum. Als meine Beine versagten, fing ich an zu halluzinieren.
In einer Flugmaschine zerbombte ich im zweiten Weltkrieg Köln. Die Maschine wurde heruntergeschossen. Mit meinem Fallschirm landete ich dort sanft und sicher in den Armen einer hübschen, jungen, warmherzigen Frau. Ich konnte bei ihr ohne Probleme untertauchen. So wurde ich von ihr im Krieg gerettet und überlebte ich ihn. Wir liebten einander lebenslang leidenschaftlich und wir blieben glücklich zusammen.
Ein Friedhofsgärtner fand mich über einem der tausend Kreuze hängend. Er brachte mich freundlicherweise Arm in Arm zum abgeschlossenen Ausgang. Es war längst 17.00 Uhr gewesen. Um diese Zeit ging immer die Pforte zu. Wie ich mein Hotel erreichte, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, dass der Gärtner mich in seinem Auto zurück ins Hotel gebracht hatte.

Wie unterschiedlich alte Friedhöfe sein können, entdeckte ich auch auf meinen Reisen in Deutschland. Wegen meiner Arbeit war ich dort viel unterwegs. Ich besuchte Dome und Friedhöfe, zum Beispiel jüdische Friedhöfe. Es gab keinen größeren Unterschied als zwischen dem in Neviges und dem in Worms für mich.
Als ich den Mariendom in Neviges – den eindrucksvollen, klotzigen Gottfried Böhm Betonbau, aber innerhalb dieses Domes herrscht eine atemberaubende Atmosphäre – besucht hatte, musste ich noch einen langen Spaziergang machen, um den jüdischen Friedhof dort zu erreichen. Ich wanderte durch die Innenstadt und kam durch die Unterführung der Bahnstrecke Wuppertal-Essen auf der Donnenberger Straße heraus. Bei „Unter Lünes“ verließ ich diesen Weg und nahm die Alaun Straße. Nach so ungefähr fünfhundert Metern bog ich links ab in Richtung Zwingerberger Weg. Als ich nach einiger Zeit auf den Wanderweg kam, musste ich noch zehn Minuten gehen. Unterwegs genoss ich die ausgezeichneten Ausblicke – mit der Windrather Kapelle in der Ferne.
„Wie reizvoll ist hier das Niederbergische Land”, dachte ich damals.
Dann, mitten im Kuhlendahl, nicht weit weg von Halfmannsberg, lag der jüdische Friedhof. Ich wäre fast daran vorbeigelaufen. Unter Stacheldraht hindurch kam ich auf den völlig verwahrlosten, ungepflegten Friedhof. Gras und Unkraut wucherten überall und viele Grabsteine konnten jederzeit herunterstürzen. Es wurde mir sofort klar, dass hier nicht viele Leute mehr hinkamen. Ich setzte mich in voller Stille hin und verblieb da mindestens eine Stunde, tief in mir selbst versunken.
Ich verließ den Friedhof und ging weiter und erreichte nach einer Viertelstunde die Bernsaustraße. Ich lief entlang die Kläranlage und so kam ich aufs Neue in Neviges an. Ich war zu lange auf dem Friedhof gewesen, dass ich keine Zeit mehr hatte, um Schloss Hardenberg zu besichtigen, denn ich wollte die nächste S-Bahnzug erreichen. Das klappte und ich fuhr zurück in Richtung Köln. In Vohwinkel stieg ich um.
Wie anders war es auf dem gepflegten Wormser Friedhof „Heiliger Sand”. In Worms musste ich nicht einen langen Rundgang, wie in Neviges, machen. Nein, der Bahnhof, der jüdische Friedhof und der Dom „Sankt Peter“ liegen nicht weit voneinander entfernt. Über die Bahnhofstraße erreichte ich schnell den „Heiligen Sand”. Lange war ich da nicht, denn ein Lärm von Mäh- und anderen Maschinen hießen mich auf dem Friedhof unfriedlich willkommen. Dutzende von Friedhofs-arbeitern waren beschäftigt den Friedhof gepflegter zu machen. Ich lief da noch nicht eine Viertelstunde herum und entfloh dann mit einem unerträglichen Krach in meinem Kopf den Friedhof. Ich brauchte Ruhe und über die Andreasstraße erreichte ich schnell den Dom. Als ich drinnen war, setzte ich mich sofort in eine Bank hin. Ich konnte es nicht fassen, dass ich ausgerechnet auf dem „Heiligen Sand” war, als da so viele Arbeiter ihre Arbeit erledigen mussten.
Mein Kopf wollte nicht zur Ruhe kommen und vieles flog hindurch:
„Im Staub versunken und das Tier verschwand in die Kälte. Dünne Luft umkreisten die grauen Wände. Aufrecht gehen war ein beispielloser Versuch, sich selbst nicht zu verleugnen. Schweigende Steine, die eine Gruft installierten, unter Mengen von Vorwürfen. Stille, Stille auf dem Pfad der Leugnung. Sie klammerte sich fest wie eine Blume der Unglückseligkeit. Spring, spring und werde federleicht. Kreuzende Wege wurden von Fahrzeugen weitergetrieben, bis die Feierlichkeiten wie Fruchtfleisch im Trichter verschwanden. Unerschütterlich schuftete er weiter, bis die stillen Figuren nicht mehr atmeten. Tiefes Wasser mit Beamten, wie schleichende Entbehrungen der verlockenden Ruderboote …”
Ich brauchte diese Technik der Sätze-Bildung, als ich enttäuscht war, unter Druck gelangte, nervös, oder aufgeregt wurde. Ich kam zur Ruhe, als ich diese Technik anwendete. Wiederholt passierte es, dass die Worte ganz normal bei mir hochkamen und ich einen Stift und Papier brauchte, um alles schnell aufzuschreiben. Ich gewöhnte mich daran, immer dieses Zeug bei mir zu haben.
Nach einer Ewigkeit verließ ich den Dom, ohne mir bewusst zu sein, was ich darin an Sehenswürdigkeiten verpasst hatte. Als ich dann draußen war, hatte ich kein Interesse mehr, mir das Lutherdenkmal anzuschauen. Ich beeilte mich, den Bahnhof zu erreichen. Da musste ich noch eine Zeit lang warten, bis ich den Zug Richtung Heidelberg bekommen konnte. Als ich mich beim Studieren der Werbeplakate ablenken wollte, fing es in meinem Kopf erneut an zu krachen. Ich versuchte sofort, den Strom der Sätze aufrechtzuhalten. Das geling mir mit Mühe. Ich bemerkte erfreulicherweise, dass der Zug eingefahren war und ich stieg ein. Um Heidelberg zu erreichen musste ich in Mannheim umsteigen.