ARTIKEL

DIE ARBEITEN VON FRAUKE SEEMANN

Was auffällt in den Arbeiten von Frauke Seemann ist, dass sie Bild und Schrift kombiniert. Wörter und Sätze werden mit den Bildelementen eine Totalität. Die Wörter und die Texte, die sie benutzt, sind meistens von

autobiografischen Ursprung: Erfahrungen, Tagebuchnotizen, Erlebnisse, Erinnerungen. Gemalte und geschriebene Lebensprosa und -poesie. Vom Wesen aus sehr persönlich, aber der Betrachter könnte diese auf seinem/seiner eigenen Leben zurückführen. Sich in die Stille zurückziehen und nachdenken über was er/sie soeben gelesen/gesehen hat. Schriftzeichen, die man nicht mehr kann lesen oder erkennen, werden dann sichtbar. Und auch diese “eigenartige” Zeichen erscheinen in ihren Arbeiten. Sie lässt Schichten entstehen. Wegen der Transparenz einer Schicht wird der Betrachter gespannt auf was darunter sitzen könnte: Farbe, Formen, Zeichen … ja vielleicht das verborgene Leben der Künstlerin selbst. Der Betrachter geht auf Entdeckungsreise. Und hier herein wird er/sie manchmal grausam gestört von in die Bildebene komponierte, oder von draußen aus hereinspringenden Farbformen. Ja, so könnte Malerei sein. So etwas an zu schauen ist ein Genuss. Irgendwo braucht die Malerei kein anderes Kriterium.

Mit einem Haufen Freude stickt sie in ihre Arbeiten – so fallen die Ebenen nicht auseinander! Nähen und sticken werden immer noch wie etwas typisch weiblich angesehen. Aber wenn ein Arzt eine Wunde zunäht, dann wird so etwas ganz anders geschätzt. Frauke Seemann versucht hier etwas zu durchbrechen. Sie nützt die Technik von Nähen/Sticken auf einer bildnerischen Art und Weise. Ich erfahre das als etwas ganz Aufregendes. Mit der Nadel wird durch die Leinwand/das Papier (die Bildträger) gestochen. Au, das tut wirklich weh.

In den Arbeiten ist das Stickgarn auf eine Zahl von bildnerischer Art und Weisen angewendet worden: als Schriftzeichen, als Verzierung, als geometrische Form und als Linie herum einer Form (entweder Grenze zwischen zwei Farbenformen oder Grenze zwischen Farbenform und Hintergrund).

Ihre Arbeiten entstehen auf Leinwand, Baumwolle, Papier usw. Dieses Material wird liegend auf dem Fußboden bemalt. Die Farbe wird frisch verarbeitet – Pigmente werden mit unterschiedlichen Bindemitteln gemischt. Das Anbringen der Farbe passiert auf abwechslungsreicher Art und Weisen: dick, dünn, mit großen/kleinen Pinsel, tröpfchenweise usw. Und weiter klebt und montiert sie. Alles entsteht aus einer innerlichen Notwendigkeit. Sie hat mir erzählt, dass sie zum Malen hier auf der Welt gekommen ist! Ich wünsche ihr dazu ganz viel Erfolg.

FOLKERT SIERTS

ROBERT MENASSE – DIE HAUPTSTADT

“Da läuft ein Schwein!“ – so fängt das Buch „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse an. Ja, warum sollte kein Schwein in Brüssel herumlaufen können! Brüssel, die Hauptstadt Europas. In Berlin (die eigentliche Hauptstadt Europas) laufen auch Schweine herum – Wildschweine. Und warum sollte von den insgesamt zwölfeinhalb Millionen niederländischen Zuchtschweinen nicht ein Exemplar die Lust bekommen, auf Reisen zu gehen und sich dann in Brüssel zu verirren?

Was ist „Die Hauptstadt“ für ein Buch! Es ist ein politischer Roman mit viel Drama, Humor, Auseinandersetzungen, Intrigen, Mord … und auch die Liebe wird nicht vergessen.

Eines Tages fährt Robert Menasse nach Brüssel, um herauszufinden, ob er einen Roman über die EU-Bürokratie schreiben kann. Das ist nicht so einfach für ihn. Er fängt dann erst mit einem Essay an: „Der  Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas“ – kein Roman, sondern mehr ein Sachbuch. Dieses Buch dient ihm als Fundament für „Die Hauptstadt“.

Und was lesen wir in diesen Büchern? Genau gesagt: “Die EU-Büro-kratie ist überhaupt nicht die Bürokratie, wie sie in den Köpfen der normalen Menschen herumgeistert. Dort ist vieles gut organisiert und vieles funktioniert hervorragend. Und es zeigt sich, dass EU-Beamte/Beamtinnen normale Menschen sind: Sie haben Probleme mit Verwandten, mit Alkohol; fühlen sich einsam; haben eine EU-Cycling-Group; verlieben sich; haben Potenzstörungen …

Robert Menasse ist ein ausgezeichneter Schriftsteller. Wie in einem Eilzug habe ich diese beiden Bücher gelesen, langweilig sind sie bestimmt nicht. Vieles von dem, was in „Der Europäischen Landbote“ steht, wiederholt sich in „Die Hauptstadt“.

Das Kernthema von ihm ist: “Europa zerbricht nicht an der Europäischen Kommission, sondern an den Nationalstaaten.” Er befürwortet ein Europa der Regionen und die Nationalstaaten sollte man als Müll und Gerümpel entsorgen. Für Robert Menasse ist es klar, dass die EU-Kommission kein Schweinestall ist, sondern eine Imageverbesserung braucht.

In „Die Hauptstadt“ bekommt ein Österreicher aus Wien (Martin Susman) den Auftrag von seiner Leiterin (Fenia Xenopoulou) – eine zypriotische Griechin, die ihre Beförderung zur Leiterin als Abschiebung erfahren hat – diese Imageverbesserung zum Anlass des sechzigsten Geburtstages der römischen Verträge (die EWG wurde am 25 März 1957 gegründet) zu organisieren. Sie bekommt den Namen: ”Big Jubilee Project”.

Martin Susman wird es schnell klar, dass er auf die Gründungsparameter der EU zurückgreifen muss. Die Gründer wollten nie wieder Krieg in Europa. Martin Susman sieht Auschwitz als Symbol dafür. Es ist zu erwarten, dass das Projekt scheitern wird. Und das stimmt. Das Projekt stirbt dann auch einen frühen Tod.

Ich mag keine dicken Bücher. „Die Hauptstadt“ ist ein dickes Buch und nichtsdestotrotz finde ich, dass das Buch entweder zu dünn, oder doch noch zu dick ist.

Zu dünn:

In „Die Hauptstadt“ sind die Hauptpersonen aus den unterschiedlichsten Ländern nach Brüssel angereist gekommen. Zum Beispiel sind drei Personen Österreicher. Für mich sind das zwei zu viel. Der Professor Alois Erhart hätte mir gereicht. Die Brüder Martin und Florian Susman hätten viel besser aus den Niederlanden stammen können. Wunderbare Streitgespräche hätten stattfinden können über:

Wie ist es möglich, dass solch ein kleines Land auf dem zweiten Platz in der Welt von ernährungsproduzierenden Ländern steht. Ja wirklich, das ist eine totale Schweinerei. Und so etwas ist nur möglich, weil da im höchsten Maße Ausbeutung; Tierquälerei; Umwelt-, Wasser-, Boden-, und Luftverschmutzung; Vergeudung von Wasser und Energie stattfindet.

Die Nahrung für die Tiere der E(ier)F(leisch)M(ilch)-Industrie in den Niederlanden kommt bestimmt nicht zu hundert Prozent aus diesem Land selbst. Ich kann also feststellen, dass die Niederlande noch immer eine Kolonialmacht sind. Und Kolonialmächte haben in der Geschichte immer viele Opfer gemacht.

Zu dick:

Robert Menasse hat die unterschiedlichen Erzähllinien wunderbar komponiert. Am Anfang ist es schwierig zu entdecken, wo die hinführen werden. In „Die Hauptstadt“ spielt sich auch ein Krimi ab. Was passiert in diesem Krimi? Da wird eine falsche Person erschossen. Man könnte darüber seinen Kopf zerbrechen, ob diese Person entweder die EU und die Kommission, oder den Nationalstaat und damit auch den Europäischen Rat symbolisiert.

Warum die falsche Person erschossen wird, bleibt völlig unklar. Auch, welche Person erschossen wurde. Und weiter bleibt die nicht ums Leben gebrachte Person ein Unbekannter. Wohl, dass die römisch-katholische Kirche und die NATO mit diesem Auftrag wahrscheinlich etwas zu tun hatten.

Für mich hätte Robert Menasse die ganze Krimisache weglassen können. Nichtsdestoweniger hat Menasse aus der Person des Kommissars (Émile Brunfaut) eine malerische Figur – mit Bierbauch, Fußballbegeisterung, Krankheit, unperfektem Charme … – gemacht.

Und natürlich wird auch die Flüchtlingsproblematik nicht vergessen. Martin Susmans Bruder ist unterwegs nach Budapest, wo er eine Ver-sammlung des Verbandes der europäischen Schweinezüchter besuchen möchte. Mitten zwischen den Flüchtlingen verunglückt er und wird, bevor er in einem Krankenhausbett liegt, noch auf offener Straße liegend, in den Armen einer Maria Magdalena (einer Zuwanderin) fotografiert. Das Bild geht natürlich um die ganze Welt.

Eine schöne Symbolik gibt es in “Die Hauptstadt” als der emeritierte Professor Alois Erhart das Mausoleum der ewigen Liebe besuchen möchte. Er sucht erst auf dem falschen Friedhof, aber ein Totengräber sagt ihm, wo er das Mausoleum finden kann, wohl auf einem anderen Friedhof. Er geht dahin und sieht, dass vom Mausoleum ein Trümmer-haufen übriggeblieben ist.

Das Mausoleum war von einem Baron aus Brüssel für seine jung gestorbene Frau gebaut worden. Dieser Baron hatte sich bei einer Reise in    Belgisch-Kongo schwer verliebt in eine schwarze Frau. Er nahm sie mit nach Brüssel. Nach vielen Schwierigkeiten heirateten sie. Im Jahr 1910, starb diese Frau nach der Todgeburt ihres Sohnes.

Der tieftraurige Baron ließ zur Erinnerung seiner Frau, im Dach des Mausoleums ein Fenster einbauen. Und so, dass immer am Todestag seiner Ehefrau das Tageslicht eine Herzform auf ihrem Sarkophag bildete.

Alois Erhart ist natürlich schwer enttäuscht über das, was er dort sieht. Wie konnte so etwas mitten in Europa geschehen, ein Symbol der Liebe verwandelt in eine Bruchbude? Armes Europa!

Im Übrigen hätte Robert Menasse die Person Alois Erhart besser nicht auf der Bühne des Thinktanks „New Pact for Europa“ – zur Gestaltung einer neuen EU – erscheinen lassen können. Die Personen dieses Thinktanks sind nur arrogante Nichtsnutzer. In den Versammlungen dieses Thinktanks trägt Alois Erhart – wie ein Robert Menasse-“Klon” –   seine Vorlesungen vor.

Und wie endet das Buch?

Am 22.03.2016 findet der Anschlag von Moslem-Extremisten am U-Bahnhof Maalbeek in Brüssel statt. Robert Menasse benutzt dieses Ereignis. In „Die Hauptstadt“ sterben bei diesem Anschlag vier Hauptpersonen: der demenz-kranke David de Vriend – er hatte Auschwitz überlebt, und Robert Menasse schildert de Vriends Geschichte tiefgreifend – die frustrierte Fenia Xenopoulou, der sympathische Martin Susman und der altmodische Alois Erhart.

Der Killer im Krimi des Buches „Die Hauptstadt“ – Ryszard/Mateusz/-Matek Oswiecki – war schon bei einem Zugunfall in Polen ums Leben gekommen.

Zusammengefasst: In „Die Hauptstadt“ spielt der Tod also die wichtigste Rolle!

ROBERT MENASSE – DER EUROPÄISCHE LANDBOTE. DIE WUT DER BÜRGER UND DER FRIEDE EUROPAS – PAUL ZSOLNAY VERLAG WIEN 2012

ROBERT MENASSE – DIE HAUPTSTADT – SUHRKAMP VERLAG BERLIN 2017

ROBERT MENASSE – DE  HOOFDSTAD – DE ARBEIDERSPERS AMSTERDAM 2018

FOLKERT SIERTS

JENNY ERPENBECK – GEHEN, GING, GEGANGEN

Das Buch fängt an mit Richard – ein Philologe. Seine Frau ist vor fünf Jahren gestorben. Seine Geliebte hat ihn im Stich gelassen. Und er ist gerade als Professor in Rente gegangen. Nun muss er sich selbst neu entdecken.

Richard wohnt an einem See – es könnte der Müggelsee sein. Im Sommer ist in diesem See ein Mann ertrunken. Seitdem passiert da nichts mehr. Ob es muss ein Fremder sein, der da ins Wasser taucht und keine Ahnung hat, was dort passiert war. Hier verpasst Jenny Erpenbeck dem Leser einen Denkzettel. Im Mittelmeer sind schon tausende Flüchtlinge ertrunken, nichtsdestotrotz schwimmen die Deutsche da noch ganz gerne.

Wann eines Tages Richard Fernsehen guckt, wird ihm bewusst, dass auf dem Alexanderplatz Flüchtlinge einen Hungerstreik angefangen haben. Nachmittags war er dort noch gewesen. Ein Freund von ihm – ein Archäologe – hatte ihn eingeladen um die Ausgrabungen am Alexanderplatz zu besuchen. Das da am Platz auch hunger-streikende Flüchtlinge sich niedergelassen hatten, das hatte Richard nicht so bewusst mitbekommen.

Ein paar Tage später wird im Fernsehen berichtet, dass die Flüchtlinge vom Alexanderplatz verschwunden sind – vielleicht zum Flüchtlingszeltlager am Oranien-platz zurückgegangen. Richard bekommt das mit und möchte gerne wissen, wo die Flüchtlinge geblieben sind. Allmählich geht er auf die Suche und kommt in Kontakt mit den Flüchtlingen. Er versucht auf seiner Art und Weise denen zu helfen. Und sein Leben ändert sich total.

Die Frage, die man schon schnell stellen kann, ist die wer in diesem Buch die Hauptperson ist, die Hauptpersonen sind. Eine klare Antwort von Jenny Erpenbeck bekomme ich nicht.

Mit Beziehung auf einem Roman hat man doch im Großen und Ganzen immer mit einer Dreieckbeziehung zu tun: Schriftsteller/in – Erzähler/in im Buch – Hauptperson/en. So zu sehen ist das in diesem Buch für Jenny Erpenbeck ein zu großes Problem gewesen.

Ist entweder der Richard die Hauptperson, oder sind die Flüchtlinge die Hauptpersonen? Richard auf der Suche nach seiner Identität. Die Flüchtlinge in ihrem aussichtlosen Zustand.

Hätte das anders gemacht werden können. Ich denke schon. Jenny Erpenbeck hätte ihre sehr rationale, buchhalterische Schreibweise verlassen müssen, und allmählich eine von herzgeprägter hantieren können.

Zum Beispiel – ich beschreibe hier nur eine Möglichkeit:

Irgendwo im Buch verliebt Richard sich in die dunkele Deutschlehrerin – eine Äthiopierin. Diese Frau versucht Flüchtlinge zu helfen Deutsch zu lernen. Sie bekommt dabei Unterstützung von Richard.

Und dann später im Buch ist diese Frau plötzlich aus seinem Leben verschwunden. Jenny Erpenbeck lässt Richard nichts unternehmen, die Frau zurück zu finden. Das hätte doch ganz anders aussehen können.

Richard hätte sich zum äußersten anstrengen können, sie in sein Leben zurückzubekommen. Und wann das letztendlich passiert wäre, würde sie gerade am Flughafen abgeschoben.

Es wäre nicht Sommer, sondern Winter. Der See wäre zugefroren gewesen. Richard käme total traurig und durcheinander nach Hause. Es schneite. Draußen in der Nähe seines Hauses verirrte er sich und landete auf den See und käme niemals zurück. Jetzt könnte er den schon ertrunkenen Mann Gesellschaft leisten. Beide wie ein Mahnmal für die schon ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer.

Was möchte ich noch mehr über dieses Buch erzählen:

# für mich hatte es viel zu viel Seiten. Ich hatte Mühe das Buch zum Ende zu lesen;

# es interessierte mich doch ganz und gar nicht was Richard so im Supermarkt kaufte; was er aß … und immer mal wieder wurde so vieles aufgelistet, bis zur Aufzählung der Verteilung der Flüchtlinge über Kirche, Freunde usw. Und es ist dann doch unglaubwürdig, dass Richards Haus von vielen Flüchtlinge mitbewohnt wird;

# ich wurde aufgerufen zu spenden. Am Ende des Buches wurde eine Kontonummer vermeldet, ohne mir zu sagen was Jenny Erpenbeck selbst gespendet hatte. Sie hätte mir doch mitteilen können, dass von jedem verkauften Buch ein Euro gespendet werden sollte;

# irgendwo war Jenny Erpenbeck eine Heilseherin. Sie hatte GEHEN, GING GEGANGEN schon längst fertig bevor in 2015 die Flüchtingswelle Deutschland überschwemmte;

# man darf Jenny Erpenbeck als Informationenvermittlerin doch wohl sehr dankbar sein;

# falls man Erdkunde, Verzählchen aus der antiken Kultur, Situationen von Flüchtlingen im Deutschland, das Funktionieren von Behörden da … mag, dann sollte man das Buch unbedingt lesen.

Zusammengefasst:

Für mich ist GEHEN, GING, GEGANGEN ein gescheiterer Roman. Jenny Erpenbeck hätte meiner Meinung nach viel mehr Emotionen Gefühl, Herz, Leidenschaft … statt soviel Aufzählung, Buchhalterei, Verstand … in ihrem Buch stecken können. Ein echter Roman, ein echtes Kunstwerk ist es niemals geworden.

JENNY ERPENBECK – GEHEN, GING, GEGANGEN – KNAUS-VERLAG – 2015

FOLKERT SIERTS